Cappuccino morbid

Berliner Zeitung

18.07.1998

LEBEN AM BERLINER KOLLWITZPLATZ DER OSTEN VERSCHWINDET UND ÜBRIG BLEIBT NUR NOCH EIN MODISCHES ZEICHEN

In der Husemannstraße im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg, nur wenige Meter vom Kollwitzplatz entfernt, gibt es einen kleinen Kellerladen. Die Tür ist in der Husemannstraße im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg, nur wenige Meter vom Kollwitzplatz entfernt, gibt es einen kleinen Kellerladen. Die Tür ist hellblau angemalt, und im einzigen Fenster steht eine kleine Schreibtischlampe, die still vor sich hin leuchtet. Kommt man näher ans Fenster heran, sieht man drinnen die üblichen Büromöbel und Regale. Ein Mensch ist nicht zu sehen.

Draußen an der Tür klebt ein vom Regen durchweichter Zettel. „Bitte mehrmals Klingeln, bin im Schnittraum.“ Man kann klingeln so viel man will, nie macht jemand auf. Der Laden heißt „Agentur für Alternativen“, und diese kleine Geschichte erzählt eigentlich schon alles über den neuen Kollwitzplatz: Alternativ wird nicht mehr gelebt, sondern die Alternativen werden jetzt über eine Agentur vertrieben, die aber nicht besetzt ist. Das Mädchen sieht aus, als hätte es sich im Laden geirrt. Es ist viel zu fein und elegant für die einfache Gaststätte „am Kolle“. „Am Kolle“ war früher mal eine Eisdiele, ist heute noch eine der wenigen aus DDR-Zeiten übriggebliebene Kneipen am Kollwitzplatz, und das elegante Mädchen trägt gerade ein volles Tablett vom Holztresen auf die Terrasse zu den älteren Touristen, stellt, als sie zurückkommt, drinnen dem Bauarbeiter sein Bier vor die Nase. Heute ist nicht viel los, das Mädchen ist zu allen nett und redet jetzt auch mit dem Mann, der am Tresen sitzt, obwohl der schon ziemlich betrunken und kaum zu verstehen ist.

Aber irgend etwas stimmt mit dem Mädchen nicht. Ihre Bewegungen sind zu schnell und zu hastig. Man hat den Eindruck, sie kann an keiner Stelle länger bleiben, muß immer gleich wieder weg, zum nächsten Tisch, zurück zum Tresen. Als säße ihr ein Geist im Nacken, der sie vor sich her treibt.

Sie komme, sagt sie, aus Hamburg und ist erst seit vier Monaten in Berlin. In Hamburg habe sie auch schon in einem Café gearbeitet, in einem Tennisclub. Hier in Berlin sei es anders, sagt sie, wärmer. Dabei gleitet ihr Blick eher befremdet und ungläubig über die grünen Plastiktischdecken und die Fotos an der Wand. Und warum arbeitet sie gerade am Kollwitzplatz und ausgerechnet in dieser Kneipe? Sie zuckt mit den Achseln. Sie sei gleich nach ihrer Ankunft zum Kollwitzplatz gekommen, habe sich alle Cafés von außen angeguckt, habe hier gefragt und konnte gleich am nächsten Tag anfangen.

In der „Kommandatur“ am Wasserturm ist auch nicht viel los. Eine junge Frau mit schwarzgefärbtem Haar hockt im Eingang und schaut auf den leeren, verregneten Vorplatz, auf dem heute nicht einmal die Alibi-Autonomen der Gegend abhängen. Sie kommt aus Berlin, Ost, und weiß genau, was sie von der Gegend hält: „Die Touristen werden immer schlimmer. Früher, vor drei, vier Jahren war das so: Jemand kam in den Laden an den Tresen, holte sein Bier, ging raus, kam wieder rein und holte neues Bier. Früher haben die Leute Bier bestellt und gesoffen bis zum Umfallen. Heute bleiben sie erst mal draußen sitzen und denken, sie werden bedient. Diesen Sommer ist es besonders schlimm. Alle wollen Milchkaffee, neulich sogar jemand einen frischgepreßten Orangensaft, da habe ich gesagt, so was gibt s bei uns nicht, geh doch rüber in die Edelcafés.“ Und als hätte ein ungnädiger Regisseur sie ins Bild getrieben, stolpert gerade jetzt eine Touristenfamilie über den leeren Vorplatz. Alle in bunten Regencapes, der Vater vorneweg mit umständlich aufgeklapptem Stadtplan, dahinter die Mutter, einen Rucksack auf dem Rücken, das Kind trottet unwillig hinterher. Die junge Frau beobachtet die Touristen und schweigt vielsagend. Egal, mit wem man über den Kollwitzplatz und den benachbarten Wasserturm spricht, ein Wort fällt immer: Früher. Ganz früher, als die Torstraße noch die Grenze der Stadt war und das Gebiet quasi noch Land, befanden sich dort, wo jetzt der Wasserturm steht, mal Windmühlen. Früher, als noch DDR war, gab es hier eine Kneipe, die „Zur Windmühle“ hieß. In dieser Kneipe hing ein Bild, das die Windmühlen von ganz früher zeigte. Das Bild kannte jeder, „weil die Perspektiven überhaupt nicht stimmten und völlig schief waren“, sagt Claudia Strasser, die schon seit Anfang der achtziger Jahre hier wohnt.

Früher gab es hier auch das sagenumwobene Theater „Zinnober“, das erste freie Theater der DDR. Früher gab es auf dem Platz einen Toilettenmann und bis in die späten achtziger Jahre in der Kollwitzstraße einen Fuhrunternehmer, dessen Pferde den Schutt der Gegend abtransportiert haben. „Früher“, sagt Gisbert Daske, der in der Nacht seines 18. Geburtstages aus Eisenach an den Kollwitzplatz kam, „gab es hier einfach die schönsten Frauen mit dem größten Selbstbewußtsein und immer neue Gedanken, weil der Kollwitzplatz ein Durchzugsgebiet war.“ „Früher“, sagt Klaus Dahlmann, „ging man einfach ins ,1900 und konnte sicher sein, daß man Freunde trifft.“ Bildet man die Schnittmenge aus all diesen Früher-Geschichten, läßt sich ungefähr folgende Kollwitzplatz-Legende herausdestillieren.

Als junger Mensch zog man aus der Provinz nach Berlin, und weil die Wohnungsbaugesellschaft vom Prenzlauer Berg so verschlafen war und es außerdem so viele leerstehende Wohnungen gab, landete man hier, „knackte eine Wohnung“ und zog einfach ein. Manchmal bekam man später einen Mietvertrag, manchmal auch nicht. Über einem wohnte eine Kellnerin, unten drunter wohnten einfache Arbeiter. Man war jung, spielte Theater, dichtete und las die Gedichte bei Wohnungslesungen vor. Man ging ins „Wiener Cafe“ und ins „Mosaik“, und es herrschte eine inspirierende, leicht subversive Stimmung. Man lernte schöne Frauen kennen, bekam bald das erste Kind, mit dem man auf dem Kollwitzplatz spielte, wo man möglicherweise noch schönere Frauen kennenlernte, mit denen man vielleicht weitere Kinder bekam. Trotzdem feierten alle zusammen auf den sagenumwobenen Hoffesten. So muß es gewesen sein, und natürlich auch nicht.

Eine Idylle am Kollwitzplatz habe es auch früher nie gegeben, sagt Claudia Strasser. Kollwitzplatztouristen gibt es mindestens schon seit 1987, als man die Husemannstraße pittoresk im Stile der Jahrhundertwende restauriert hat, mit alten Laternen und einem Lebensmittelladen mit historischer Inneneinrichtung. „Einmal saß ich mit Freunden im Hof, plötzlich ging das Tor auf, und eine Schar Menschen kam herein, sagte nichts, stand einfach da und glotzte uns an wie die Affen im Zoo. Das war 1987.“ Claudia Strasser weiß fast zu jedem Haus eine Geschichte. Sie weiß, wo Thomas Krüger und Uwe Kolbe gewohnt haben, in welchem Stock welche Lesungen stattgefunden haben. Welcher Verleger gerade wegzieht und wer nach einer kurzen Zeit im Westen dann doch wieder zurückgezogen ist. „Dahinten war mal eine Drogerie drin, und dort ein Schneider. Und die Kinderbibliothek an der Ecke kommt auch raus.“ Sie bleibt vor einer sanierten Hausfassade stehen, öffnet das Tor, und plötzlich stehen da im Hinterhof echte Pferdeställe, abbruchreif, aber noch nicht zusammengefallen. „Irgendwo hier hat es auch einmal Kühe gegeben.“ Und heute? „Heute“, sagt Claudia Strasser, „erzählt man eine Geschichte über den Kollwitzplatz am besten an den Cappuccini entlang.

Man bestellt in jedem Café einen Cappuccino, trinkt sich so einmal um den ganzen Platz und weiß dann schon sehr viel.

Wer in welcher Kneipe auf welche Weise die Milch aufschäumt. Wichtige Frage heutzutage.“ Da, wo früher der historische Lebensmittelladen war, sitzt jetzt übrigens eine Bäckerei. Einer der wenigen Läden, in dem man noch einfache Dinge kaufen kann. Ansonsten hat man den Eindruck, daß jeder nur erdenkliche Zeitgeist- und Firlefanzladen, den die Moden des Westens ans Licht der Welt gespült haben, hierher gebeamt wurde. Neben und zwischen den unzähligen Cafés und mexikanischen, arabischen, spanischen, italienischen, thailändischen, chinesischen, srilankischen Restaurants gibt es Keramikläden, ein Geschäft für Möbel der siebziger Jahre und eines für hellholziges Design der Neunziger. Es gibt Kräuterläden und Blumengebindeläden (nicht zu verwechseln mit Blumenläden) und Reisebüros und Bilderläden neben Bilderrahmenläden und mindestens ein halbes Dutzend Wein- und Feinkostläden, italienische und spanische und gemischte. Nur einen Schuster gibt es nicht. Die Statistik beschreibt die Veränderung so: Die Hälfte der Bevölkerung hat sich seit dem Mauerfall im Prenzlauer Berg ausgetauscht. Viele Ostler sind ins Grüne gezogen, andere konnten die neuen Mieten der sanierten Wohnungen nicht mehr zahlen und zogen nach Marzahn oder Hellersdorf. Eingezogen in die Wohnungen mit den frisch abge-zogenen Dielen ist die junge, finanzstarke Metropolenjugend, die zwar jetzt am Kollwitzplatz wohnt, letztlich aber auf der ganzen Welt zu Hause ist. Ihre Symbole und Gegenstände hat diese Jugend gleich mitgebracht. Denn all die neuen Läden haben nur einen Zweck: Sie bedienen die neuen Bewohner mit den Accessoires, die sie für die Ausstaffierung ihres Lebensraumes benötigen. Lampen aus den siebziger Jahren, karge, geometrische Bilder an der Wand, Ökotee im Küchenschrank aus der Gründerzeit. Es hat sozusagen eine ästhetische Globalisierung am Kollwitzplatz stattgefunden.

Man kann jetzt hier so leben wie auch in New York oder Düsseldorf, inklusive des frischgepreßten Orangensaftes.

Der Osten, scheint es, hat dabei nur die Rolle des morbiden Hintergrunds, des atmosphärischen Beigeschmacks. Der Osten sorgt mit seinem angeblichen Hauch des Echten für den sogenannten authentischen Moment in der Lebensinszenierung. Der Osten verschwindet aber und    übrig bleibt in diesem System nur noch ein ab-straktes, inhaltlich entleertes, modisches Zeichen: Ost. So könnte man jetzt immer weiter theoretisieren und eine Kollwitzplatz-These nach der nächsten entwickeln, vielleicht sogar die große deutsche Einheitsproblematik am kleinen Kollwitzplatz zeigen, und wahrscheinlich hätte man auch recht damit. Gleichzeitig ist es natürlich auch ganz anders. Inzwischen scheint die Sonne, und Claudia Strasser sitzt auf der Terrasse des „Weitzmann“. Normalerweise müßte sie sich jetzt um ihre zwei Töchter kümmern. Die Töchter sind aber mit einer Gruppe vom nahen Abenteuerspielplatz im Ferienlager. Am Nachbartisch sitzt eine lesende Frau. Ein Mann mit einem riesigen Hund kommt vorbei und unterhält sich mit einem Mann, der an einem Auto herumbastelt. Der Hund läßt sich majestätisch auf der Straße nieder. Ein Kind kommt vom Spielplatz gelaufen und will von der lesenden Frau einen Butterkeks. Klaus Dahlmann setzt sich zu Claudia Strasser an den Tisch. Er erzählt, daß er bald Großvater wird und nicht weiß, ob er sich freuen soll. Claudia Strasser sagt, daß ihre ABM- Stelle ausläuft und sie nach etwas Neuem sucht. Gisbert Daske schlendert mit seinem Töchterchen vorbei. Claudia Strasser hält ihr Gesicht in die Sonne und sagt einfach „schön!“.

Klaus Dahlmann ist 48 Jahre alt, Fotograf und wohnt schon seit über zehn Jahren in der Diedenhofer Straße. Ganz früher hat die Wohnung 50 Mark gekostet, jetzt ist sie saniert und kostet 750 Mark warm. „Das geht noch.“ Früher hat er viel für das Theater „Zinnober“ fotografiert, aber die Bilder kann er leider nicht zeigen, weil er sie ans Archiv des Deutschen Historischen Museums verkauft hat. Jetzt fotografiert er mehr Architektur und macht bald ein neues Berlin-Buch. Er sagt, die Veränderung des Platzes störe ihn nicht.

„Nur sonntags, wenn ich an einem 200 Meter langen Frühstücksbüffet entlang muß, um mir ein Brötchen zu kaufen, kotzt es mich an.“

Die Frage sei ja auch nicht die von Ost und West und ästhetischen Lebensgefühlen, sondern ganz einfach: „Wie bekomme ich mein Geld zusammen.“ Kurz nach der Wende habe er mal in zwei Monaten 10 000 Mark verdient und gedacht, so ginge es weiter. Ging es aber nicht. Im Moment habe er einen großen Auftrag in Aussicht, und außerdem sei er gerade drei Wochen Fahrrad fahren in Frankreich gewesen. „Momentan bin ich ganz ruhig.“ Und während er das sagt, bewegt sich eine kleine Plastikampulle mit Tränenflüssigkeit für Kontaktlinsen zwischen seinen Fingern hin und her.

Das Haus, in dem Dahlmann wohnt, gehört übrigens einem großen Berliner Technolabel, und ganz oben, im ausgebauten Dachgeschoß mit zwei Terrassen und Blick direkt auf den Wasserturm, wohnt der Architekt Burkhard Blaschke, der das Haus auch saniert hat. Blaschke kommt aus Münster, und während seines Studiums in Aachen hat er Technoplatten aufgenommen, sich später dann aber doch für Architektur entschieden. Vor fünf Jahren kam er nach Berlin, „weil mich genervt hat, daß man nur ein bißchen Musik machen muß, und schon finden Dich die Leute toll“. In Berlin sei Musikmachen aber angenehmerweise nichts besonderes. Seit zwei Jahren wohnt er am Wasserturm in dieser sehr, sehr spärlich möblierten Wohnung und mag „noch immer, daß es hier so touristisch ist. Man geht auf die Straße und ist von Touristen umgeben“. Er würde, sagt Burkhard Blaschke, auch öfter mal über den Ku damm laufen, einfach nur, um zwischen Touristen zu sein. Nur einkaufen könne man nicht in der Gegend, und um das Lebensmittelproblem zu lösen, hatte er schon die Idee, unter dem Wasserspeicher einen Supermarkt einzurichten. Statt Ausstellungen „der coolste Kaiser Europas“.

Dann redet er von den Mieten, die für sanierten Altbau eigentlich zwischen 6 und 9 Mark liegen müßten, tatsächlich aber oft mehr als doppelt so hoch sind. „Vor kurzem haben sie hier in der Straße die Wohnungen eines kompletten Hauses innerhalb von drei Tagen vermietet, Quadratmeterpreis 20 Mark. Heißt es. Aber Münchner Verhältnisse haben wir hier noch nicht.“ Über eine ausziehbare Leiter gelangt man von Blaschkes hinteren Terrasse auf das Dach des Hauses. Das Dach sieht ein bißchen aus wie eine Mondlandschaft. Es ist von flechtartigen Pflanzen überzogen, „damit es im Sommer in der Wohnung nicht so heiß wird“, und hin und wieder ragen Fensterkuppeln aus Milchglas in die Luft. Von hier oben sieht man ganz Berlin, und der Fernsehturm wirkt zum Greifen nah. Dann sagt Burkhard Blaschke, mitten in seiner Dachbepflanzung stehend, etwas sehr Interessantes:

„Es gibt hier schon eine bestimmte Stimmung unter den Westlern. Für alle war es ein Traum, hierher zu ziehen. Und jetzt ist man da, wo man hinwollte. Und das schafft natürlich eine Verbundenheit.“

Also haben sich die Westler ihre eigene Traumatmosphäre mitgebracht? „Könnte man so sagen.“ Gisbert Daske sitzt an einem Fenstertisch im „Pasternak“. Er ist nicht nur dessen Geschäftsführer, sondern außerdem auch der Sprecher der „Betroffenenvertretung Gaststätten am Kollwitzplatz“. Darüberhinaus ist Gisbert Daske auch so etwas wie der inoffizielle Pressesprecher der Gegend. Gisbert Daske nippt an seinem Weißwein und sagt erstmal: „Den Platz kann nur verstehen, wer auch von hier ist.“ Folgend entwirft er unter Zuhilfenahme seiner Hände und diverser Fingerzeichnungen auf dem Tisch einen kurzen Abriß der Kneipengeschichte. Wie am Anfang gar nichts da war. Dann das „1900“, dann nach dem Fall der Mauer das „Cafe Westphal“ aufmachte, später auch das „Pasternak“ und die „Kommandatur“, die Ende des Jahres übrigens schließe.

Wie die ersten Westler herkamen, erst noch Idealisten aus Kreuzberg, die einfach der Ort reizte. Und wie dann in den letzten Jahren viele kamen, um nur das große Geld zu machen. „Aber so einfach ist das natürlich nicht.“ Auch das sei nämlich die Funktion der „Betroffenenvertretung“. Darauf zu achten, daß sich die Wirte in die Gemeinschaft einfügen und nicht nur ihre „asoziale Geldnummer“ durchziehen. Er wolle jetzt keine Namen nennen, aber man könne natürlich einen unliebsamen Wirt ganz einfach hochgehen lassen, ohne Steine und Gewalt und solche Sachen. „Eine Kneipe lebt von ihrem Ruf.“

Nur über eines möchte Gisbert Daske nicht sprechen: Über den Streit zwischen Anwohnern und Kneipen über die Öffnungszeiten, der die letzten Jahre immer wieder durch die Presse ging. Erst gab es Beschwerden, dann Lärmmessungen, dann kamen die Briefe vom Wirtschaftsamt, in denen es hieß: bis 22 Uhr und nicht länger, worauf man Anträge auf Sonderregelungen gestellt hat. Es gab sogenannte Clearing-Verfahren, und jetzt habe man sich mit dem Amt geeinigt: Terassenbetrieb unter der Woche bis 23 Uhr und an den Wochenenden bis 2 Uhr. Thema beendet und zurück zu Daskes Lieblingswort: Die Wärme. „Das wichtigste am Platz ist ja die Wärme“, sagt Gisbert Daske und schaut dabei in eine ganz weite Ferne. „Die Wärme war da, ist da, und für diese Wärme tragen wir die Verantwortung.“ Und wie er so weiter von „Wärme“ und „Verantwortung“ redet, ist Daske nicht mehr der Pressesprecher, sondern plötzlich der Pressepfarrer des Kollwitzplatzes. Längeres Haar, weiche Augen und immer eine Benson & Hedges im Mundwinkel. Ein blasser Gastronomiemensch eben, und gleichzeitig der Pfarrer, der seine Kollwitzgemeinde beieinanderhalten will, um so die Wärme im Bezirk zu halten. Aber wie ist es um eine Wärme bestellt, die man ständig beschwören muß?

Plötzlich fragt Gisbert Daske: „Hast Du Kinder?“ „Nein.“ „Solltest Du aber. Kinder sind das einzig Sinnvolle. Sie geben einen Anfang, ein Ende und eine Mitte.“ Eine Gruppe junger Touristen kommt ins Pasternak. Sie machen gerade eine Schnitzeljagd, sagt ein Junge mit zerzaustem Haar, und müßten dafür hier im Pasternak ein russisches Volkslied singen und innerhalb von fünf Minuten fünf Mark einspielen. Ob sie das dürften. „Klar“, sagt Gisbert Daske, hält die Schnitzeljagd-Sänger aber noch einen Augenblick zurück. Er wolle noch etwas zum Mythos des Platzes sagen: „Der Mythos hat seinen Grund, aber er ist nicht zu fassen. Manchmal denke ich, unterm Kollwitzplatz ist etwas vergraben. Wie im Märchen. Wenn ich wüßte, was es ist, wäre ich hier weg. Aber wenn s nicht da wäre, wäre ich auch weg.“ Dann singen die Touristen das russische Volkslied. Allerdings auf deutsch.