Am Ende des Astes

Berliner Zeitung

21.11.1998

ÜBER ARNOLD DREYBLATT UND SEINE EINFACH KOMPLIZIERTE KUNST DER ERINNERUNG

Es gibt Momente, deren Bedeutung einem erst bewußt wird, wenn sie längst vergangen sind. So ging es Arnold Dreyblatt, als er 1985 in einem Antiquariat in Istanbul ein Buch mit dem Titel „Who is who in Central and East Europa“ („Wer ist wer in Mittel- und Osteuropa“) fand. In dem Buch waren über 10 000 sogenannter wichtiger Persönlichkeiten verzeichnet, von denen man heute nichts mehr weiß, denn die Ausgabe war von 1933. Violinisten aus Prag, Industrielle aus Wien, Moskauer Revolutionäre, Ausdruckstänzerinnen aus Tallin und polnische Bibliothekarinnen, die acht Sprachen beherrschten.

Das Besondere an diesem „Who is who“ war, daß es zu jeder Person einen kleinen Text gab, in dem sich auf wenigen Zeilen manchmal große Dramen abspielten, die sich freilich oft zum Guten wendeten. Über einen gewissen Georges Georgesco aus Bukarest hieß es zum Beispiel: „Seine ersten Auftritte als Violoncellist hatte er 1910 1912 in Berlin. Dann versteiften sich zwei Finger seiner linken Hand, und er wurde Dirigent. Sein erster Auftritt nach dem Krieg war wieder in Berlin und dann in Bukarest. Er dirigierte alle großen Orchester der Welt.“ Oder es wurden auf den ersten Blick rührende Kleinigkeiten genannt, durch die sich aber ein plastisches Porträt der Personen durchdrückte. Über den Griechen Platon Soterios Drakoules, wohnhaft in Oxford, stand geschrieben:

„Er ist Schriftsteller und Soziologe und Gründer der sozialistischen Arbeiterbewegung in Griechenland. Seine Freizeitbeschäftigungen: Violine und Schach.“

Es waren die versteiften Finger, die Hobbys oder andere Details, die Arnold Dreyblatt faszinierten. Arnold Dreyblatt aber wußte nicht, was er damit anfangen sollte. Er kaufte das Buch nicht und ging nach Hause. In der kommenden Nacht konnte er nicht schlafen. Das Buch ging ihm nicht aus dem Kopf. Früh am nächsten Tag ging er zurück und kaufte es. „Es war wahnsinnig teuer.“ Seitdem ist das „Who is who“ das Zentrum von Dreyblatts Kunst. Es begann mit einem Opernprojekt, bei dem er mit den Autobiographiesplittern spielte und sie immer wieder neu zusammensetzte. Es führte nach mehreren Installationen 1995 zu der Arbeit „Memory Arena“, die in Hamburg, München und Kopenhagen zu sehen war, und bei der er so etwas wie ein öffentliches Erinnerungsarchiv nachstellte. Vom 8. bis 29. November kann man in Amsterdam in der Villa der Felix-Meritis-Foundation die neueste Arbeit von Dreyblatt sehen. Sie fußt wieder auf dem „Who is who“ und simuliert noch konsequenter die Funktionsweise eines Archivs. Teile dieses neuen „Memory Projects“ werden im nächsten Jahr im Hamburger Bahnhof in Berlin ausgestellt.

„Es ist mit diesem Buch“, sagt Arnold Dreyblatt, „so ähnlich wie die Beschäftigung mit dem Talmud. Eine niemals endende Neuinterpretation und Diskussion und Auseinandersetzung mit einem vorgegebenen Text, der nicht verändert werden kann.“ Das Buch als eine Art Feld, in dem sich all die Fragen kreuzen, die ihn schon immer beschäftigt haben: Zu welchem Zweck sammelt man Informationen und erstellt Archive?

Ist Erinnerung eine bestimmte Form des Vergessens?

Die Frage, auf die alle anderen hinauslaufen, heißt natürlich: Wer bin ich? Arnold Dreyblatt sitzt im Arbeitszimmer seiner Wohnung in Berlin Niederschönhausen. Rechts und links von ihm stapeln sich Papiere und Briefe auf dem Schreibtisch. Direkt vor ihm wandert der Cursor auf dem Bildschirm seines PC einen seltsam verästelten Baum entlang. Man sieht eine Stichstruktur und dazwischen Namen, unter denen Jahreszahlen oder Fragezeichen stehen. Diese Figur ist der Stammbaum der Familie Dreyblatt, den Arnold Dreyblatt in den letzten Jahren angelegt und nach und nach erweitert hat. Der Stammbaum ist inzwischen so riesig geworden, daß er zwischen den vielen Namen seinen eigenen nicht mehr findet. Das ist Dreyblatt sichtlich unangenehm, und während er das Geäst hin und her laufen läßt, nähert sich sein Gesicht immer mehr dem Bildschirm. „Endlich!“ ruft er. Ganz unten links am Ende des Endes eines Astes ist zu lesen: Arnold Dreyblatt, geboren 1953 in New York.

Auch wenn der Stammbaum keine Kunst ist, gibt es doch eine direkte Verbindung zwischen Dreyblatts Arbeit und seiner Biographie. Wie die meisten Personen aus dem „Who is who“ kommt auch seine Familie aus Osteuropa. Die Vorfahren seines Vaters waren Juden in Galizien, die später nach Wien zogen, wo sie als Tanz- und Musikgruppe ihr Geld verdienten. Die Familie der Mutter stammt aus Litauen, Weißrußland und Ostpolen. Drei von vier seiner Großeltern kamen schon vor dem Krieg nach Amerika, andere Familienmitglieder, die den Holocaust überlebten, zogen nach.

„Wir lebten in Brooklyn und als jüdische Großfamilie in einem fast ländlichen Rahmen mit großem Garten mitten in der Stadt. Das Tor war immer offen. Ständig kam jemand zu Besuch, jeder kannte jeden, und es wurden viele Geschichten erzählt.“

Arnold Dreyblatt selbst erzählt auch in Geschichten. Zum Beispiel die Geschichte, wie er als Jugendlicher ein Phantom in die Familie einschleuste. Er hatte sich als Fünfzehnjähriger ein, zwei Mal mit einem Mädchen getroffen, und weil seine Mutter immer nachfragte, behauptete er irgendwann, daß sie seine Freundin sei. Tatsächlich verlor er das Mädchen aus den Augen, aber am Familientisch wurde über sie geredet, und immer, wenn der junge Arnold zum Beispiel von einem alkoholreichen Abend viel zu spät nach Hause kam, sagte er zur Erklärung, daß er seine Freundin kavaliersgerecht noch quer durch die Stadt nach Hause begleitet habe, was seiner Mutter gefiel. Als eine Großtante schließlich seine Freundin kennenlernen wollte, wurde es ihm selbst unheimlich, und er verkündete offiziell die Trennung.

Arnold Dreyblatt redet aber auch in Bildern, die für sich selbst sprechen. Zum Beispiel sagt er einmal mitten in einer anderen Geschichte plötzlich den Satz „Ich bin Einzelkind“ und schaut dabei ein bißchen gequält und gleichzeitig weise, so daß man sich das, was daraus folgt, einfach dazu denken kann: Das versammelte Familiengewicht auf seinen Schultern, das möglicherweise der Grund dafür ist, daß Arnold Dreyblatt gerade auf einem blauen Sofa in Berlin und nicht in New York sitzt. Gleichzeitig auch so etwas wie die Verpflichtung, die Geschichte der Familie zu sammeln und als Nachfahre zu archivieren.

Es gibt noch eine andere Parallele zwischen dem „Who is who“ und seiner eigenen Familie. Die Löcher in den Geschichten. Das Buch zeigt Menschen, von denen man nicht viel weiß. Ihre Porträts zeichnen sich dadurch aus, daß man sie kurz zu Gesicht bekommt, gleichzeitig bleiben sie verschollen. Ebenso ist es bei vielen Mitgliedern seiner eigenen Familie, die im Holocaust und während des Krieges umgebracht worden sind. Von ihnen sind oft nur Fotos oder bruchstückhaft übermittelte Erinnerungen geblieben. Arnold Dreyblatt redet darüber nur kurz und in Andeutungen, aber es wird deutlich, daß es bei der Erstellung des Stammbaums, „im Prinzip eine unendliche Arbeit“, natürlich hauptsächlich um die geht, von denen man kaum mehr weiß.

Arnold Dreyblatt studierte Komposition und Musikethnologie in Buffalo, er beschäftigte sich mit experimentellem Film und Video und gründete ein eigenes Ensemble, das „Orchestra of Excited Strings“, das mit ungewöhnlichen Instrumenten eine Musik spielte, die sich an minimalistischen Formen orientierte. 1983 kam er mit einem Stipendium für einige Monate nach Berlin und machte seine erste Reise durch Osteuropa, der später weitere folgten. Serbien, Ungarn, Bukowina, Transsylvanien, Anatolien. Ihn interessierte die Frage, wie „intellektuelle Traditionen“ durch den Kommunismus hindurch weitergegeben werden. Vor allem aber suchte er in den osteuropäischen Ländern die eigene Tradition. Es wurden, um es mit einem poetischen Ausdruck von Gundolf S. Freyermuth zu sagen, „Reisen in die Verlorengegangenheit“. Denn in den Ländern, aus der seine Familie stammte, war so gut wie nichts mehr da. Die Spuren jüdischen Lebens waren fast vollständig verschwunden. Fand er doch noch einzelne Rudimente wieder, fühlte er sich an Brooklyn erinnert. In einem einfachen Vorort von Budapest stieß er auf einen ganz bestimmten grünen Gartenzaun. Den gleichen Zaun hatte sein Großvater in New York im Keller des Hauses gebaut. Er kannte den Zaun natürlich, aber er hatte ihn nie beachtet. Erst in Budapest merkte er, daß diese Art, einen Gartenzaun zu bauen und grün anzustreichen, aus Europa kam. So ging es ihm auch mit Gerüchen und Gegenständen. In Osteuropa kam er auf eine neue Weise noch mal in New York an.

„In Amerika wußte ich nicht, was jüdische Wurzeln hatte und was nicht. Ich wußte nicht, was die einzelnen Sachen bedeuteten. Dann bin ich um die halbe Welt gereist, und erst aus der Distanz habe ich viele Dinge zu Hause verstanden.“

Distanz scheint in Dreyblatts Leben wichtig zu sein. Eine Distanz, die andererseits große Nähe ermöglicht. Seit 1984 lebt Arnold Dreyblatt mit Unterbrechungen in Berlin, noch vor der Wiedervereinigung suchte er sich eine Wohnung im Prenzlauer Berg und arbeitete mit dem Schriftsteller Jan Faktor zusammen. „Mit den Menschen aus dem Westen konnte ich nicht viel anfangen. Für die gab es keine Geschichte und keine Vergangenheit. Die waren ja extra nach Berlin gekommen, um alle Verbindungen abzureißen und sich neu zu erfinden.“ Auch Dreyblatt kappte kurze Zeit alle Verbindungen zur Familie. Aber seitdem er für den Stammbaum Forschung betreibt, ist er sozusagen das Zentrum der Familie geworden. „Wer irgendeine Frage hat, ruft hier an.“ Distanz braucht er auch für seine Kunst.

Einmal hat er bei der „Ars Electronica“ in Österreich eine Performance mit Familienmaterial gemacht. Er zeigte Fotos und Filme aus seiner Kindheit. „Mein Vater war Hobbyfotograf und hat quasi meine ganze Kindheit dokumentiert. An viele Sachen kann ich mich nur erinnern, weil sie auf Filmen festgehalten wurden. Die Performance wurde schrecklich. Zu nah an mir dran.“ Deshalb war der Fund des „Who is who“ auch so einschneidend. Plötzlich hatte er eine große Ersatzfamilie, der er sich künstlerisch immer wieder neu nähern konnte, ohne sich selbst zu entblößen. Auch im Gespräch hat Dreyblatt eine Distanzierungsstrategie. Er gleitet von einem unterhaltsamen Detail zum nächsten, so daß man kaum oder erst sehr spät merkt, daß er das Thema, über das man eigentlich sprechen wollte, elegant umschifft. Zum Beispiel erzählt er lieber von einem sehr religiösen Familienvater, der mit sechs Kindern seit zehn Jahren gänzlich ohne Möbel in der Stadt lebt, als irgendeine Aussage zur Diskussion um das Mahnmal zu machen.

Dreyblatts bisherige Hauptarbeit ist die sogenannte „Memory Arena“ (zusammen mit Fred Pommerehn), eine interaktive Performance-Installation, bei der, wie der Untertitel schon sagt, der Betrachter in die Arbeit integriert wird. Es geht ums Erinnern. Nicht um ein spezifisches Erinnern, nicht um Täter und Opfer, sondern um ein allgemeines ritualhaftes Erinnern. Dreyblatt hat einen Raum inszeniert, der einer abgedunkelten Bibliothek gleicht. Regale und Gänge, Schauspieler sitzen in grauen Kitteln hinter Tischen, geben den Zuschauern Anweisungen und bereiten sie auf die Erinnerung an diejenigen vor, die niemand mehr kennt, an 765 Personen aus dem „Who is who“. Im ersten Stock befindet sich die Arena, in der das Publikum aus Akten liest, für die es vorher aufwendig Anträge ausfüllen mußte. Der Raum ist streng hierarchisiert, auf jeder Erhebung steht ein Beamter, und die Lesungen verlaufen nach akkuratem Zeitplan, den man auf beschrifteten Tafeln lesen kann. Es entsteht ein versetzter, kaum verständlicher Biographiekanon. Gleichzeitig sind die gelesenen Texte über Monitor zu lesen. Die Wirkung dieser Beschwörung ist vielschichtig. Die einzelne Person geht ein bißchen im Kollektiv unter, andererseits ist die Gruppe zu klein, als daß die einzelnen wirklich gesichtslos würden. Die gelesenen Worte vermischen sich mit dem Geflüster des nicht lesenden Publikums.

Das Ganze ist wie ein Rauschen im Hirn, bei dem die vorbeifließenden Figuren immer auf Abstand bleiben und nie rangezoomt werden können.

Das ist natürlich auch etwas masochistisch, denn man will von den Personen mehr wissen, man will den Fluß anhalten, aus den Informationen Individuen zusammensetzen, aber dieser Wunsch wird verweigert. Die permanente Kombination von unterschiedlichen Lebensdetails ist ein lustiges Spiel, aber auch eine Qual, und zwar nicht, weil man von soviel Informationen überfordert wäre (das ist man auch), sondern, weil der einzelne in seiner Einzigartigkeit kurz beleuchtet und dann schon wieder vergessen wird. Die Figuren zeigen ihr Gesicht und bleiben Partikel in der großen Erinnerungsmaschinerie. Gespenstisch wird es durch das Akkurate und Fließbandartige der Präsentation, deren reibungslose Sterilität an die Bürokratie der Massenvernichtung erinnert. Dreyblatt will das nicht so sehen:

„Diese Art der Interpretation hat wohl etwas mit dem Schicksal der Deutschen zu tun. Natürlich spielt der Zweite Weltkrieg eine Rolle, die Frage lautet aber nicht: Was ist durch den Krieg passiert, sondern: Was war vorher da?“

Für ihn steht nicht das im Vordergrund, was verschwunden ist, sondern das, was immerhin noch vorhanden ist. Bei dem neuen „Memory Project“ (zusammen mit dem Architekten Luca Ruzza) in Amsterdam, das in Zusammenarbeit von Hebbel-Theater und Felix-Meritis-Foundation entstanden ist, steht der Archivcharakter noch weiter im Vordergrund. Diesmal liest das Publikum nicht nur Abschnitte aus dem „Who is who“, sondern wird über private Daten, die es abgibt und die elektronisch gespeichert werden, selbst Teil des Erinnerungsmaterials. Abgesehen davon, daß in Amsterdam diesmal alles elektronisch vernetzt ist und technisch neueste Materialien verwendet werden, um zum Beispiel Texte über durchsichtige Oberflächen laufen zu lassen, schließt Dreyblatt das Archiv mit sich selbst kurz. Soll heißen: Es thematisiert sich selbst. Es gibt Räume, in denen ausschließlich gezeigt wird, wie die Vernetzung von Archiven untereinander funktioniert. In einem anderen wird Dreyblatts bisheriges Arbeiten rekonstruiert.

Das „Memory Project“ funktioniert wie eine eigene geschlossene Welt, eine metaphorische Ersatzwelt, in der im Prinzip die gesamte wirkliche Welt als Datenansammlung Platz hat.

Als Welt, die wie ein Organismus funktioniert, der Daten produziert, und sie gleichzeitig teilweise selbst wieder auffrißt. Dieses Archivtier hat etwas Monströses. Man kann sich fragen: Was soll diese Informationsapparatur, was kann man mit soviel frei flottierender Information anfangen. Macht so etwas nicht nur Sinn, wenn man die abstrakten Informationen in irgendeiner Weise mit sich selbst in Verbindung bringen kann? Das Monströse sieht Arnold Dreyblatt nur am Rand. Er ist fasziniert von der Vorstellung einer Datentotalität, und mehrmals erzählt er von dem riesigen Archiv, das Mormonen seit Jahren anlegen, irgendwo in einem Bunker in Utah. In diesem Archiv werden angeblich Informationen zu jedem Menschen dieser Welt gespeichert.

„Ich und Du, wir alle sind in diesem Archiv vorhanden.“

Es ist ein Traum. Die ganze Welt im distanzierten Dateiformat. Eine Welt, in der es keine Löcher in den Geschichten mehr gibt und vor allem keine Verschollenen mehr. Eine Welt, die summt und in den Datenleitungen rauscht und gleichzeitig still ist. Arnold Dreyblatt sagt es anders: „Das Leben macht mich nervös. Bibliotheken nicht.“