Berliner Brücken: Die Zarte am Rande der Macht

Tagesspiegel – Kultur

24.08.2013

Geheimnisvoll und elegant unspektakulär: Der Kanzleramtssteg in Mitte ist nicht öffentlich zugänglich und doch für alle Augen sichtbar. Nur einmal im Jahr darf das Volk ihn betreten – wenn die Kanzlerin zum Tag der offenen Tür einlädt
VON ANDREAS SCHÄFER

Von oben gleicht die Brücke zwei grauen Streichhölzern. Sehr schmal, zerbrechlich fast. Sie verlängert einen der zwei wuchtigen Verwaltungsriegel des Bundeskanzleramtes über die Spree und führt – ins Weiße. Seite 19 der Broschüre „Die Bundeskanzlerin und das Bundeskanzleramt“ zeigt das komplette sogenannte „Band des Bundes“ aus der Vogelperspektive. Es reicht – beeindruckende 900 Meter lang – vom Marie-Elisabeth-LüdersHaus im Osten über das Paul-Löbe-Haus und diverse Freiflächen zum Kanzleramt und weiter zum Kanzlergarten im Westen. Entworfen haben es die Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank, fertiggestellt wurde es mit der Einweihung des Bundeskanzleramtes 2005.

Man sieht auf dem Bild auch die Nachbarschaft, die enge Schleife des Spreebogens, den Reichstag und einen Ausschnitt der „schwangeren Auster“. Das zarteste Element in diesem Riegel der Macht aber bildet der Kanzleramtssteg. Das Verbindende, das kleine Detail, das für den „Eindruck des Zusammenhangs“ sorgt, wie es woanders heißt. Nur was der Steg eigentlich womit verbindet, was hier zusammengehalten wird, sieht man nicht. Mit dem filigran hervorschießenden Brückenpfeil ist der Rand des Fotos nämlich erreicht.

Der Kanzleramtssteg, bei Spreekilometer 14,1 zwischen Luther- und Moltkebrücke gelegen, ist Teil der Regierungsgebäude und als solcher gemeinhin für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Allein dieser Umstand verleiht dem Brückchen etwas Geheimnisvolles. Dabei ist es viel unkomplizierter als erwartet, es zu betreten – zumindest als Journalist. Der Leiter des Pressereferats Andreas Brücher schlägt auf Anfrage gleich einen Begehungstermin vor.

Doch vor dem Steg kommt erst noch die Sicherheitsschleuse des Bundeskanzleramtes, und die durchläuft man verhältnismäßig erstaunt. Die abweisende Aufgeblasenheit der an Zäunen stehenden Polizisten und die nölige schlechte Laune der hinter Panzerglas herumthronenden Ausweiskontrolleure hätte man der erhabenen Außenanmutung des Ensembles gar nicht zugetraut. Vielleicht leidet das Sicherheitspersonal kollektiv unter dem Chefsekretärinnensyndrom – so überidentifiziert und verschmolzen mit den Entscheidungsträgern, dass es jeden Einlassbegehrenden als Feind betrachtet. Werden die eigentlich nicht gecoacht? Als Verkörperung der Schwelle zwischen Macht und Öffentlichkeit, zwischen Institution und Bürger?

Doch jetzt kommt einem schon, gut gelaunt, Andreas Brücher mit einer jungen Kollegin entgegen. Eine Kanzleramtsstegbesichtigung sei eher ungewöhnlich, aber ein netter Spaziergang. Die beiden haben Regenschirme dabei, denn der Himmel ist wolkenverhangen, und führen die Besucher an der nördlichen Seite des Kanzleramtes und an einem halben Dutzend dunkler Limousinen entlang. Ehe man sich’s versieht, befindet man sich auf dem Steg über dem braunen Wasser der Spree. Auf der einen Seite erhebt sich die monumentale Rückseite des Kanzleramtes mit seinen Glasflächen und säulenhaften Betonelementen. Auf der anderen erstreckt sich der weite Kanzlerpark mit Robinien und zypressenhaft schlanken Eichen und anderen alten Bäumen und vielen kurz geschnittenen Rasenflächen dazwischen. Wir sind die Einzigen auf der zweistöckigen Brücke, stehen unten auf der schmalen Fahrbahn, während der leicht versetzte Übergang darüber für Fußgänger gedacht ist und direkt in den Verwaltungstrakt führt, in dem – laut Übersichtsplan – erst die Räume der Wirtschaftspolitik, dann die der Europapolitik und schließlich die des Bundesnachrichtendienstes liegen.

Weder im Kanzlergarten noch im weitläufigen Park ist jemand zu sehen – bis auf einige Gärtner, die in Anwesenheit eines uniformierten Polizisten ihrer Arbeit nachgehen. Kein Mensch weit und breit. Doch! Ein weiterer Gärtner fährt auf einem Rasentraktor durch den Park und wird von dem Polizisten angehalten. Jeder, der nicht zum Mitarbeiterstamm gehört, muss begleitet werden, erfahren wir. Der Steg ist auf elegante Weise unspektakulär. Die beiden Ebenen sind durch einen niedrigen Rundbogen miteinander verbunden. Während der Fußgängerübergang auf der Parkseite kerzengerade in einen erhöhten Weg übergeht, schwingt die Fahrbahn darunter, kurz bevor sie das Ufer erreicht, nach links ab.

Dafür ist der Blick umso spektakulärer. Haus der Kulturen der Welt und Tiergarten auf der einen, Hauptbahnhof, Charité und die ganze neue Mitte bis zum Alex auf der anderen Seite. Am nördlichen Magnus-Hirschfeld-Ufer wirbt ein Transparent für „Berlins schönsten Biergarten“. Andreas Brücher lächelt. Er ist selbst zum ersten Mal auf dem Steg.

„Worüber wollen Sie eigentlich schreiben?“

Über das Verhältnis von Hier und Dort? Oder das postmoderne Spiel von Bogen und Gerade, das die Ironie der Kreise und Bögen im wuchtigen Kanzleramt fortsetzt? Zu hochfahrenden Theorien über die Verbindung von Volk und Herrscher oder Handeln (Amtssitz) und Kontemplation (Park) lädt dieser nüchterne Streifen zumindest nicht ein. Man steht und schaut, ist bescheiden beeindruckt und fühlt sich gleichzeitig entschieden fehl am Platz und ungeduldig und durch Dutzende von Kameras beobachtet, aber alles eben auf eine ungespenstische, irgendwie sozialdemokratisch harmlose oder raffiniert einschläfernde Weise.

Wie viele Männer sitzen eigentlich in dem Raum mit den Überwachungsmonitoren?

Er lacht. „Das weiß ich nicht.“

Wer benutzt diesen Steg denn vor allem?

Es sind hauptsächlich Gärtner. Dass Mitarbeiter in der Mittagspause in den Park hinübergingen, sei seltener. Ursprünglich sollte hinter dem Park eine weitere Spreebrücke zu der geschwungenen Wohnanlage im Moabiter Werder errichtet werden. Die wurde aber aus Geldmangel nie gebaut, und jetzt blüht der Park als Kanzleramtswurmfortsatz meist menschenleer vor sich hin, dient als Hubschrauberlandeplatz der Regierung – und einmal im Jahr als Garten der Kanzlerin, in dem sie während des „Tages der offenen Tür“ bei einem Sommerfest die Bevölkerung empfängt.

Andreas Brücher dreht sich um und schaut zum Kanzleramt hinauf, zu dem trommelhaften Vorsprung, auf dem sich die Terrasse der Kanzlerarbeitsräume befindet. Von da oben zeige Angela Merkel ihren Staatsgästen gern die Stadt. „Jetzt“ Brückengang fand Anfang August statt – ist sie natürlich im Urlaub.“ Doch wo, das haben auch er und seine Mitarbeiter auch nur aus der Presse erfahren.