SOMMER Spiele (9): Abend, ewig

Tagesspiegel – Kultur

18.07.2013

Ob Rituale auf Reisen oder ein Hobby in der schönen Jahreszeit: Sommerspiele müssen nicht stets olympisch sein. In den Ferien erzählen wir hier alle paar Tage von einem saisonalen Lieblingszeitvertreib.
VON ANDREAS SCHÄFER

Es gehörte zu den Regeln des Sommers, dass es weniger und andere Regeln gab. So war es zum Beispiel strengstens verboten, barfuß die Veranda zu verlassen – wegen der Schlangen, die angeblich unter jedem größeren Stein lauerten. Auch war es untersagt, direkt nach einer Mahlzeit ins Meer zu gehen, und wegen der gnadenlosen Sonne durfte man nur mit ordentlicher Kopfbedeckung an den Strand.

Alles andere aber war egal. Jeder frühstückte, wann er wollte. Man lag stundenlang in der Hängematte unter der uralten Kiefer. Hin und wieder fiel eine tote Zikade aus dem Geäst und raschelte zwischen den Fingern wie trockenes Laub. Man blinzelte durch die Flügel hindurch zum Nachbarhaus, auf dessen Terrasse der Patriarch gelangweilt die Fliegenklatsche sausen ließ, wartete auf die Spielfreunde. Von den Klippen springen, nach Miesmuscheln tauchen, mit dem Jagdmesser kleine Schnecken von den bemoosten Felsen kratzen und auf der Stelle verzehren (was auf der Hochachtungsliste der Sommerkinder noch mehr galt als ein Kopfsprung von der Klippe.)

Das Wunderbarste geschah bei Sonnenuntergang. Man musste nie ins Bett gehen. So wie sich Pommes Frites plötzlich in gesunde gebratene Kartoffeln verwandelten, die täglich verzehrt werden durften, verwandelten sich die Eltern in nachlässige Wesen, die sich um nichts mehr scherten und den Kindern eine neue Tageszeit schenkten: den ewigen Abend. Die ganze Bagage wurde in zwei riesige Citroëns verfrachtet, rumpelte über Schlaglöcher der nächsten Ortschaft zu und saß alsbald um eine riesige Tafel, im Licht altertümlicher Laternen. Vor der Statue des Freiheitskämpfers spielten Jungen Fußball oder fuhren Rad. Der Patriarch monologisierte über die Verhältnisse. Die Gesichter der Eltern und Verwandten dunkelten, gingen belustigt in die Breite. Man brauchte nur „Darf ich…“ zu sagen, schon fielen Münzen in die offene Hand, und man trollte sich.

Luna Park, Spielhallen (Pacman), verschämt lungerte man an der Kasse des Freilichtkinos herum. Der Kassenmann glotzte apathisch, der Film hatte schon begonnen. Englisch mit Untertiteln, amerikanische Limousinen krachten ineinander. Die Sitzflächen der Stühle bestanden aus bespannten Plastikkordeln, und das Knacken, mit dem Sonnenblumenkerne zerbissen wurden, war fast so laut wie das Scheppern der Lautsprecher. Mehr als der Film faszinierte den Jungen der Mann, der auf einem Balkon der Häuser saß, zwischen denen sich die riesige Leinwand spannte. Eine Bierflasche in der Hand, verfolgte er die Handlung wie aus einer Loge. Jeden Tag das gleiche Schauspiel.

Nach der Vorstellung war der Platz fast menschenleer. Ungeduldig warteten die Erwachsenen an der Tafel. Aber wir lachten nur, als der Onkel brüllte: Morgen liegt ihr um neun im Bett! Wir wussten, morgen würde er sich nicht mehr erinnern. Eine weitere Regel des Sommers: Die Sonne löscht das Gedächtnis.