Und der Text flüstert:
Du bist ein Dichter!

Berliner Zeitung

01.07.1997

KLAGENFURTER LITERATURKURS UND INGEBORG-BACHMANN-WETTBEWERB 1997. TAGEBUCH EINES LITERATURTOURISTEN

Dienstag vormittag, elf Uhr. Im sogenannten Europahaus, wo der Berliner Publizist Michael Rutschky einen Vortrag hält. Im kleinen Zuschauerraum setze ich Dienstag vormittag, elf Uhr. Im sogenannten Europahaus, wo der Berliner Publizist Michael Rutschky einen Vortrag hält. Im kleinen Zuschauerraum setze ich mich zwischen nicht mehr ganz so junge Menschen, die Michael Rutschky gerade als junge Dichter anspricht. Der folgende Vortrag ist auf eine sehr charmante Art böse und handelt, versteckt hinter Benjamin- und Barthes-Zitaten, von dem Selbstverständnis des jungen Dichters.

Rutschkys These lautet, daß die meisten jungen Schreiber nicht schreiben und deshalb Dichter sind, sondern umgekehrt, daß sie Dichter sein wollen und also schreiben.

Der Vortrag ist so charmant, daß kaum einer die Provokation bemerkt. Nach der Diskussion spreche ich eine Dame im schwarzen Sommerkleid an, die wichtig aussieht. Die Dame stellt sich als Karin Graf aus Berlin vor. Karin Graf hat dort einen literarischen Salon, eine Literaturagentur und ist darüber hinaus Kulturreferentin der Bertelsmann Buch AG. In dieser Funktion hat sie den ersten Klagenfurter Literaturkurs initiiert, auf dem ich mich gerade befinde.
Der Literaturkurs ist kein Wettbewerb wie der morgen beginnende Bachmann-Preis, sondern ein Workshop für junge Autoren, mit Vorträgen übers Schreiben, Lesen, den Literaturbetrieb und mit Arbeitsgruppen, die von arrivierten Schriftstellern geleitet werden.

20 Uhr. Öffentliche Lesung einiger Teilnehmer. Tim Staffel aus Berlin liest einen wuchtigen Berlin-Text, der am Frühstückstisch einer Wohngemeinschaft spielt und von Sex und Eifersucht handelt. Stefan Beuse liest eine ironische Liebesgeschichte, in der das Rätsel von Ritter Sport Joghurt gelüftet wird.

Mittwoch, 15 Uhr. Im Europahaus gibt es einen kleinen Skandal: Frau Dr. Brigitta Lorenzoni von der comment consulting group will den jungen Autoren die „24 ways to act“ beibringen. Persönliche Dramaturgie für Auftritt und Lesung. Frau Lorenzoni spricht mit piepsiger Stimme, aber öliger Manager-Rhetorik über sogenanntes Mikroacting, Lifelike und Moonwalking. Sie müsse eine lockere Atmosphäre schaffen. Warum nicht mal während der Lesung mit dem Buch winken oder zwischen zwei Zeilen einen Witz erzählen. Dazu winkt Frau Lorenzoni mit einem Buch, auf dem groß das Wort Star steht, was zu einer berechtigten Jungautorenrevolution führt. So geht das nicht! fängt einer an, und in fünf Minuten hat man die scientologenartige Verblendungssprache der Frau Lorenzoni demontiert.

20.30 Uhr. Der Literaturkurs ist vorbei. Und im vollen ORF-Theater wird vor laufenden Kameras der 21. Ingeborg-Bachmann- Literaturwettbewerb eröffnet. Verlosung der Lesereihenfolge und Bekanntgabe der neuen Richtlinien (wegen starker Kritik in den letzten Jahren): Erstens weniger Juroren (sieben statt elf), die zweitens weniger Autoren (16 statt 22) vorschlagen. Aber die wichtigste Neuerung: Die Juroren bekommen die Texte vorher, es gibt also keine Spontankritik mehr, sondern philologische Vorbereitung. Danach großes Raunen. Ist Klagenfurt ohne Spontankritik noch Klagenfurt?

Donnerstag, zehn Uhr. Der erste Kandidat ist durch, und es zeigt sich, daß Klagenfurt nicht mehr Klagenfurt ist. Der Schweizer Bruno Steiger las einen dichten, rätselhaften, aber völlig uninteressanten Text über die Auflösung des Subjektes, und die Jury leuchtete darin behutsam herum wie in einem Kafka-Heiligtum. Mühte sich um faire Sinnfindung, um ganz am Ende ganz zögerlich und fast verschämt anzumerken, daß der Text möglicherweise dann doch nicht funktioniert. So geht es weiter.

Penetrant positives Denken. Am penetrantesten Jurysprecher Iso Camartin, der große Versöhner. Iris Radisch dagegen liest ihre Statements gleich vom Zettel ab. Seit wann werden Proseminare auf 3sat übertragen? Von vier Autoren fiel nur einer auf: Norbert Niemann aus Chieming las aus dem Roman „Wie man·s nimmt“. Er erzählte aggressiv und mit Tempo von einer Frau, die nur noch aus Klischees besteht, und einem Mann, der sie aus Ohnmacht darüber im Geiste fast umbringt, um ihr zum Schluß zärtlich die Hand an die Wange zu legen. Mittagspause. Barbara Stang vom Aufbau-Verlag erzählt mir eine tolle Geschichte. Während der letzten Lesung sah sie auf der Schulter ihres Vordermanns ein paar krabbelnde Ameisen. Sie schaute auf den Boden und sah eine ganze Ameisenstraße. Sie fragte einen Techniker, und er gab zu, daß es im gesamten Gebäude Probleme mit Ameisen gibt. Ist der Wettbewerb insektenmäßig unterhöhlt?

16 Uhr. Die blutjunge Österreicherin Bettina Galvagni (Jahrgang 1976) kommt bleichgesichtig ans Podium geschwebt und trägt leise „Die letzte Ikone“ vor, einen beachtlichen, tragischen Liebesgesang im hohen Ton. Jury-Fehlbesetzung Barbara Frischmuth: Mir gefällt dieser Text. Mehr will ich dazu nicht sagen (mehr sagt sie grundsätzlich nicht). Fast alle schwärmen. Hauptpreisverdacht.

Freitag vormittag. Die Jury wacht etwas auf und filetiert mit spitzen Fingern zwei peinliche Texte, um sich darauf in die Kindergeschichte der 23jährigen Schweizerin Zoé Jennys (aus dem Roman „Das Blütenstaubzimmer“) zu verlieben, in der es viele schöne Wahrnehmungen und viele schön verschachelte Räume gibt, die aber gleichzeitig seltsam harmlos bleibt. Jennys Verleger Joachim Unseld strahlt, als sei ihm der Preis sicher.

12 Uhr. Auftritt des Berliners Steffen Kopetzky. Das Klischee eines Dichters aus dem Geiste der Philosophie. Wie von Michael Rutschky erfunden. Mit Glatze, kleiner Brille und hochgeschlossen trägt Kopetzky eine virtuose Thomas-Bernhard-Luft-Bombe mit dem Titel „Einbruch und Wahn“ vor, in der eigentlich nur steht, daß das Ich, ein junger Autor, verletzt ist, weil ein Journalist ihn in der „Süddeutschen“ falsch erwähnt hat. Der Text hat nur eine Funktion: Du bist ein Dichter, flüstert er dem Autor zu. Bluff, aber gut vorgetragen.

19 Uhr. Empfang des Klagenfurter Bürgermeisters. Die gesamte Bachmann-Familie quetscht sich in zwei Schulbusse und wird zum Stift Viktring gekarrt. Thomas Hettche ist weniger als einen Meter Luftlinie von Jungautor Gion Mathias Cavelty entfernt, dem Hettche vorwarf, beim Schreiben seinen Schließmuskel nicht richtig zu beherrschen. Beide tragen Anzüge, wobei Hettches Anzug definitiv besser sitzt. Auch Steffen Kopetzky zwei Sitzreihen weiter trägt Anzug, bei der Hitze sogar Krawatte. Dazu prunkvolle goldene Knöpfe an den Ärmeln. Gion Mathias Cavelty tupft sich die Stirn mit einem Taschentuch, und ein Taschentuch könnte auch Steffen Kopetzky gebrauchen. Der junge Autor als optische Simulation des FDP-Politikers. Neben den Ameisen im Theater bisher die interessanteste Entdeckung. Im Hof des Stifts Viktring unterhalte ich mich mit einer jungen Autorin aus Wien. Wir wollen eine Intrige spinnen, was uns aber nicht gelingt, weil wir nicht die gleichen Menschen kennen. Außerdem unterbricht uns ein heute verrissener Autor, der die Wienerin immer wieder fragt, ob das Wort „Träne“ am Ende seines Textes wirklich kitschig sei. Dann kommt Karin Graf vorbei und will, daß ich ihr Moritz von Uslar vorstelle, der aber nicht da ist. Macht nichts, sagt Karin Graf, und mir fällt auf, daß wir uns eben geduzt haben. Karin Graf beugt sich vor und flüstert, daß sie unbedingt ein Romanmanuskript von mir haben will. Ich beuge mich auch vor und sage, daß ich für ein Romanmanuskript von ihr einen Lektoratsjob haben möchte, und sie sagt, darüber reden wir in Berlin. Und auf einmal macht es klick in meinem Kopf, und ich denke: So, jetzt bist du gerade im Klagenfurt-Zentrum angekommen. Beim Prinzip Klagenfurt sozusagen! In der absoluten Selbstbezüglichkeit, in der trotz Kameras nach außen total verschlossenen Welt.

Das Prinzip Klagenfurt ist der Kreis, in dem jeder alles sein kann und alles mit allem vertauscht werden kann.

Thomas Hettche war erst Autor, dann Berichterstatter und ist jetzt Juror. Der Literaturwissenschaftler Iso Camartin hat mit Ex-Jurorin Verena Auffermann gerade ein literarisches Buch veröffentlicht. Der kleine Literaturkurs ist, was die Texte angeht, mitunter größer als der große Wettbewerb. Die Autoren des Kleinen sind durchschnittlich älter als die Autoren des Großen. Die absurdeste Verkehrung ergibt sich im Fall Jo Lendle. Er war Teilnehmer beim Literaturkurs, wird bald aber Lektor und also plötzlich wichtig für verlagslose Wettbewerber. Und so dreht es sich weiter. In der Mitte dieser riesigen Kreisfigur ist aber nicht die Leere. In der Mitte sitzt, denke ich, Karin Graf. Sie ist das heimliche Zentrum des Prinzips Klagenfurt, steht jetzt aber schweigend im Hof, trinkt Wein und schaut träumerisch. Was für eine Situation! Plötzlich will ich Karin Graf küssen. Einfach so. Wahrscheinlich gehört das auch zum Austauschprinzip Klagenfurt, daß man plötzlich wildfremde Menschen küssen will.

Samstag vormittag. Letzter Lesetag. Der Musiker und Radio-DJ Thomas Meinecke trägt einen ironischen, sozusagen DJ-artig gemixten Text vor, in dem viele Gruppennamen genannt und poststrukturalistische Theorien auf Alltagsprobleme angewandt werden. Noch einmal Preisstimmung. Wirklich begeistern kann auch Meinecke nicht. Auch nicht durch das flammend abgelesene Lob von Iris Radisch, die später noch weiter aufdreht, als ihr zweiter vorgeschlagener Autor einen mißlungenen Text liest. Da fuhrwerkt sie mit ihren Fertigphrasen herum, nur weil sie ihre Wahl, also sich selbst, retten will, und das ganze Elend wird noch mal deutlich: Wie tote Texte von den Juroren künstlich aufgepumpt und mit einem schillernden Sprachkleid versehen werden, aus dem sie dann verloren und furchtbar zombiemäßig herausstieren. Völliger Irrsinn. Warum kann niemand sagen: Sorry, ich habe mich geirrt?

Sonntag, elf Uhr. Eigentlich, sagen alle, dürfte es gar keinen ersten Preis geben. Uneigentlich werden alle Preise trotzdem vergeben. Nach mehreren Wahlgängen geht der Ingeborg- Bachmann-Preis 1997 (36 000 Mark) an Norbert Niemann. Den Preis des Landes Kärnten (17 000 Mark) erhält Steffen Kopetzky. Der Ernst-Willner-Preis (14 000 Mark) geht an Bettina Galvagni, das 3-Sat-Stipendium (6 000 Mark) an Zoé Jenny.