Machen! Machen! Machen!

Berliner Zeitung

Archiv – 14.03.1998

CHRISTOPH SCHLINGENSIEFS WAHLKAMPF-SPEKTAKEL „CHANCE 2000“ UND DIE GESCHICHTE EINES
UNGESCHRIEBENEN BUCHES

Mitten in einer Februarnacht klingelt das Telefon. Christoph Schlingensief ist dran. Er komme eben nach Hause und habe gerade eine neue Idee gehabt. „Wir schmeißen alles um und machen das mit der Partei ganz anders, nämlich virtuell im Fernsehen, außerparlamentarische Fernsehopposition“, sagt Schlingensief. Mit der echten Parteigründung würde es Probleme geben, habe ihm sein Anwalt gesagt. Deshalb die Kunstpartei „Chance 2000“. „Ist doch gut, oder?“ „Ja“, sage ich. Außerdem habe er mit Corinna Harfouch gesprochen, und die würde statt Schröder lieber ihn wählen. Dann redet Christoph Schlingensief von der PDS. Nach fünf Minuten sagt er: „Bis morgen“ und legt auf. Das ultimative Schlingensief-Buch, pünktlich zur Buchmesse. So etwas wollte die Lektorin. „Ich möchte, daß das ein Buch wird genau so wie Schlingensief arbeitet.“ „Also drunter und drüber“ sagte ich. Die Lektorin: „Ja. Nein. Nicht nur. Schlingensief bei der Arbeit. Die Proben, die Fernsehauftritte, der Wahlkampf, auch die Pannen natürlich. Auf jeden Fall nicht noch so eine Dokumentation, die nur das Ergebnis zeigt.“ Sie redete vom Inneren des Schlingensief-Kosmos. Zum ersten Mal sah ich Christoph Schlingensief im Fernsehen. Er war zu Gast bei Friedrich Küppersbusch und redete seltsame Dinge. Es ging um seinen Film „United Trash“, der in Afrika spielte. Küppersbusch sagte, daß in dem Film Afrikaner hinter ihren Innereien herlaufen. Und es sollte auch Zwerge geben, die schlecht behandelt werden. Küppersbusch stellte die Faschismus-Frage. Schlingensief ging darauf nicht ein und sagte immer wieder „Man muß wieder haftbar werden!“ Küppersbusch versuchte daraufhin, diesen Satz als entweder rechts oder links einzuordnen und wollte Schlingensief festnageln. Es funktionierte nicht. Es blieb unklar, ob Schlingensief meinte, was er sagte. Er saß da, lächelte in die Kamera. „Man muß wieder haftbar werden!“ Im Frühjahr vergangenen Jahres inszenierte Schlingensief in der Volksbühne „Schlacht um Europa Ufokrise 97“. Schlingensief hatte seine Theatercrew aus Behinderten und Schauspielern in bunte Raumanzüge gesteckt und spielte selbst den Conferencier, der durch traurige, aufputschende, brutale Bilder führte. Den Sinn der Bilder verstand ich immer noch nicht, aber sie waren sehr anrührend, und man merkte, daß Schlingensief irgendwo hinwollte. Hin zu einem echten Gefühl und am liebsten aus dem Theater heraus in die Wirklichkeit. In der Mitte der Bühne stand als Großsymbol eine Rakete, und der Höhepunkt der Inszenierung bestand darin, daß der Arbeitslose Werner Brecht im Publikum Püppchen verkaufte. In diesem Augenblick, in dem im Theater ein echter Arbeitsloser von einem Zuschauer für ein Püppchen echtes Geld bekam, verschwammen plötzlich die Ebenen, und niemand wußte: Ist das jetzt Theater oder Wirklichkeit oder beides? Mit seiner nächsten Aktion in Hamburg zog Schlingensief tatsächlich in die Wirklichkeit um und gründete am Hamburger Hauptbahnhof für sieben Tage eine Sozialstation für Obdachlose und Rauschgiftsüchtige. Sie zogen mit ihm durch die Stadt und feierten in Kirchen spontane Gottesdienste. Ich sagte „ja“ zum Schlingensief-Buch über den Wahlkampfzirkus und das Projekt „Chance 2000“. Die erste Überraschung: In Christoph Schlingensiefs Altbauwohnung stehen vier Sofas. Wir setzen uns an den Küchentisch. „Wir lernen uns jetzt kennen“, sagt Schlingen. Was hauptsächlich bedeutet, daß ich Schlingensiefs Metaphern bei ihrem Entstehen, Größerwerden, Strahlen und Verlöschen verfolge. Bevor er vom neuen Projekt redet, erzählt er Geschichten aus seiner Jugend. Wie er als Sechzehnjähriger Fernsehredakteure vom WDR einlud zu seinen Eltern nach Hause in die Oberhausener Waschküche. Die Redakteure kamen also in die Waschküche, um sich den Film „Das Totenhaus der Lady Florence“ anzusehen. Schlingensief hatte zwei Carrera-Autos aufgestellt, die den Vorhang aufziehen sollten.

„Und natürlich, als das Fernsehen da war, funktionierte das nicht.“ Der Film bestand fast nur aus Vor- und Rückblenden. Schlingensief hatte nur an den Wochenenden drehen können, das hatte zur Folge, daß der Kommissar mit langen Haaren und gelbem T-Shirt in den Raum kam, aber weil der Darsteller inzwischen beim Friseur gewesen war mit kurzen Haaren und grünem T-Shirt wieder aus dem Zimmer heraus ging. „Der Film sollte richtig ernst sein, aber die Leute vom Fernsehen saßen in der Waschküche und lachten sich kaputt. Das war natürlich Dolchstoß.“ Vor kurzem war Christoph Schlingensief zur Blattkritik beim „Spiegel“ eingeladen. Da saß er dann vor 80 Redakteuren und sagte, das Heft sei überhaupt nicht stimmig, und es käme ihm vor, als würden die Artikel an einem Mobile über dem Schreibtisch des Redakteurs hängen, und ab und zu würden die so aneinandertitschen, und es gibt eine kleine Bewegung, und der Lufthauch streichelt das Gesicht des Redakteurs, und der sagt: Wahnsinn, was hier wieder los ist. „Und in dem Moment war Gegröle, Geklatsche, und mindestens fünfhundert Punkte.“ Und Schlingensief freut sich darüber, daß sich andere über ihn freuen, treibt von einer Geschichte zur nächsten und läßt zwischendurch, als seien es Rettungsbojen im Gewoge der Assoziationen, immer wieder Selbsterklärungen und Programmsätze fallen: „Der Raum überprüft dich“ oder „Wir sind alle Untertemperatur oder kurz davor, daß das Thermometer knallt“ oder „Ich bin immer auf der Seite von allen“. Und aufs Projekt „Chance 2000“ bezogen: „Es geht darum, die sechs Millionen arbeitslosen Menschen sichtbar zu machen.“ Alles trägt er so vor, daß man über jeden Satz auch lachen könnte, auch wenn er über Depressionen redet, die seiner ganzen Hyper-Aktivität zugrunde liegen würden. Ich muß an die Maxime der Lektorin denken (aus dem Inneren des Schlingensief-Kosmos!) und versuche mich seiner Assoziationsschraube hinterher zu winden, was nicht wirklich schwierig ist, weil Schlingensief mich mit Suggestivblick anstrahlt. Ich springe also von der persönlichen Depression zur Depression des Universums, über die Geschwindigkeit, die eigentlich Stillstand bedeute, zum TÜV-Charakter des Kulturbetriebs und weiter zum fehlenden Bein des Behinderten, das eigentlich die Stärke des Behinderten sei. Und plötzlich verstehe ich. Das Schlingensief-Denken geht mir wie eine Erleuchtung auf. Das Fehlen ist der kleinste gemeinsame Nenner. Alle, denen etwas fehlt (Arbeit, Liebe, ein Bein), sollen sich zusammenschließen und sagen: Wir sind da! Es kommt nur auf das Aus-dem-Schatten-Treten an. Aber wie geht s dann weiter? Die Erleuchtung ist Sekunden, nachdem sie kam, auch schon wieder verschwunden. Schlingensief hat jetzt ein Handy am Ohr und flirtet mit einer Frau von der Volksbühne. Als ich später auf der Straße stehe, bin ich zwar schon Familienmitglied („Du übernimmst das Ressort Internet!“), aber über das Buch haben wir kaum gesprochen. Ich kann mich nur an eins der vielen Bilder erinnern: „Man hat eine Idee, man sprintet los, und die Leute sprinten mit, und dann, bumm, bleibt man stehen, und alle rasen an einem vorbei, und dieser Windstoß ist es wahrscheinlich, der einen so beatmet.“ Auf dem Pratergelände an der Kastanienallee wird das Zirkuszelt der Familie Sperlich aufgebaut. Die Zelte für die Tiere stehen schon. Ponys liegen auf Stroh, Ziegen riechen streng und meckern. Am Eingang wird ein Zirkuswagen postiert, die Wahlkampfzentrale der „Chance 2000“. Im Wohnwagen der Familie Sperlich kocht die Hausherrin Kaffee. Schlingensief kommt herein, entdeckt gleich die Spülmaschine in der Einbauküche und erzählt begeistert von seiner eigenen. Dann schaut er durch das Wohnwagenfenster auf das Gelände und sagt: „Tolle Stimmung, ob das an den Tieren liegt?“ Im Wahlbüro im ersten Stock des Praters versucht die Produktionsleiterin Susanne Ehlers, Wolfgang Joop zu erreichen, weil der Gelder für das Projekt zugesagt hat. Regieassistent Robert Koall tippt irgendwas in einen Laptop. Zwei Praktikanten sitzen herum und wissen nicht, was sie tun sollen. Ich blättere in dem Ordner mit der Fanpost. Nachdem Schlingensief Anfang des Jahres bei „Boulevard Bio“ aufgetreten ist und von der Partei der Arbeitslosen erzählte, bekam er Hunderte von Briefen. Von Arbeitslosen, die „mitmachen wollen, egal wie, Hauptsache Handeln“, von alten Menschen, denen er mit seiner „natürlichen Art aus der Seele sprach“. Im Brief einer jungen Frau heißt es: „Ich gestehe, ich saß gestern abend verzückt vor dem Fernseher und war so berührt von Deiner Erscheinung und dem, was Du sagtest, daß ich mir danach wie hypnotisiert Notizen darüber machte.“ Später sitzen Schlingensief, der Dramaturg Carl Hegemann und der Schauspieler Bernhard Schütz im Praterrestaurant. Schütz: „Alle denken jetzt: ich will dabeisein. Das zieht die Leute an, das ist ja etwas, was erotisch ist. Und da muß man auf der einen Seite weiterdenken. Das andere System habe ich noch nicht verstanden “ Schlingensief: „Aber du verstehst “ Schütz: „Das Hirn, das man wechseln kann “ Schlingensief: „Daß man das Hirn wechseln kann. Sagen wir mal so: aus dem Gescheiterten das Positive zu entwickeln: Ich bin arbeitslos. Daraus mache ich: Beruf Arbeitsloser! Das Ziel unserer Partei kann nur bedeuten, Luft rein, Kraft rein und so weiter.“ Schütz: „Damit bist du aber immer noch nicht aus dem Dilemma “ Schlingensief: „Das ist ja eigentlich ne Sekte. Die Parallele Partei und Sekte ist eigentlich ganz groß.

Wie viele Jünger sind da, wenn wir nicht wissen, wer Gott Vater ist, und auch kein Bundeskanzler da ist und auch kein Führer. Das ist zwangsläufig auf dem Weg dahin , daß man sagt: Jesus, darf ich dich mal anfassen.“ Schütz: „Mit der Kryptik der Sprache kommst du ja nur über einen Theaterabend rüber. Aber was machst du denn, was tust du denn tatsächlich?“ Schlingensief: „Daß ist ja das Ding, wenn ich jetzt öffentlich darüber rede, merke ich, daß ich hochgradig depressiv werde, weil ich dann einfach nicht weiß, was will die Partei und daß, was ich immer will, ist eigentlich: Ich habe eine Idee, und alle sagen ja! Und es geht los!“ Carl Hegemann: „Das ist das Erweckungserlebnis, alle rennen los und lassen sich taufen. Er will das Messianische, und das muß man ihm auch lassen. Was sich dann natürlich in sich selber bricht. Weil er sich dann sofort als Messias durchstreicht: Ich bin der Messias, der keiner mehr ist.“ Probenbeginn. Alle Schauspieler sind da, die professionellen und die behinderten. Im Zelteingang steht eine Tafel, und Schlingensief hält einen Vortrag über das System 1 (Politik) und das System 2 (Kunst). Es ginge darum, die Mauer dazwischen einzureißen, und er malt erst eine Linie auf die Tafel und überkritzelt sie dann. Astrid Meyerfeld sagt, daß ihr das alles zu theoretisch sei. Mario Garzaner, Schlingensiefs Starbehinderter, trägt eine rote Nase und hüpft von einem Bein aufs andere. Er will endlich tanzen. Dann geht s auch los. Der Regieassistent steht hinter der Musikmaschine, ein Praktikant bedient die Scheinwerfer. Mario soll mit Mikrophon in die Manege, rotes Licht, leise, ernste Musik. Mario tanzt und sagt immer wieder „Willkommen, meine Damen und Herren, hier im Zirrrrrkus Sperlich!“ Dann plötzlich Marschmusik, und die drei echten Schauspieler galoppieren durch die Manege, rollen sich auf dem Boden und stauben sich mit Sägespänen ein. „Das Zeug ist ja überall“, krächzt Astrid Meyerfeld, und Bernhard Schütz und Martin Wuttke improvisieren eine enthemmte Das-Zeug-ist-ja-überall-Orgie. Dunkel. Vier Leute hoch auf die Balustrade, vom Band kommt jetzt der Satz „Ich halte unser politisches System für unbrauchbar“, sehr gespenstisch und in Endlos-Wiederholung. Kerstin Grassmann keift: „Ich halte das nicht mehr aus, Kohl erhöht die Steuer.“ Martin Wuttke hält eine unglaubliche Parteitagsrede und beschwört „unser Zusammenkommen“. Und so geht es weiter. Aus Ideen, Bewegungen, Einwürfen werden kleine Szenen, die entweder bleiben oder in sich zusammenfallen. Schlingensief läßt auftreten und abtreten, mit Zirkusdirektor Sperlich übt man Peitschenschlagen und Übungen an der Schaukel. Sehr lustige, pathetische, rührende, alberne Momente, authentisches Weigern der behinderten Schauspieler (Werner Brecht: „Ich will mehr Geld!“), was dann sofort ins Stück integriert wird. Aber wie geht s weiter? In den nächsten Tagen wird erst mal mit Tieren gearbeitet. Mario im Frack lernt, wie man mit kleinen Ponys auf einer Wippe schaukelt, seine Mutter Ilse jongliert mit Tauben. Schlingensief übt Rückwärtsreiten. Kaum sitzt er auf dem Pony, klingelt sein Handy. Es ist Harald Schmidt, der als Gründungsmitglied von „Chance 2000“ zusagt. Schlingensief fällt vor Glück vom Pferd und fragt gleichzeitig, ob die Videokamera läuft. Schlingensief, scheint es, bringt alle dazu, immer genau da, wo man aus Angst oder Peinlichkeit normalerweise aufhören würde, weiterzumachen. Schlingensief springt ständig über die Angsthürde, und alle springen mit, und weil das irgendwie was Befreiendes hat, wird man euphorisch. Nur einmal weigert sich jemand. Kerstin Grassmann soll mit einer riesigen echten Schlange auf den Schultern einen Bauchtanz machen, sie will aber nicht. Schlingensief zerrt sie in die Manege. „Du kannst mich nicht zwingen.“ „Ich zwinge dich überhaupt nicht, ich möchte dir nur klarmachen, daß du die Schlange genießen kannst.“ Kerstin Grassmann verläßt das Zelt, und bei der Vorstellung, ein Buch über alles zu schreiben, wird mir plötzlich mulmig. Nach mehreren Tagen merkt man die größten Veränderungen bei Schlingensief selbst. Er beginnt sich in eine Art Medium zu verwandeln. Er ist überall gleichzeitig und nie da, wo man ihn eigentlich vermutet. Er kommt ins Büro gerannt, knallt Susanne Ehlers eine Liste mit zehn zu erledigenen Punkten auf den Tisch und verschwindet, bevor sie den Mund schließen kann. Um elf Uhr, heißt es, beginnen die Proben, aber um elf gibt es erst mal eine Pressekonferenz, von der nicht mal der Regieassistent weiß. Schlingensief steht jeden Tag in der Manege und beginnt gleichzeitig, sich in die Medien hin aufzulösen. Irgendwann ruft mich ein Freund an und sagt: „Schlingensiefs Auftritt beim Opernball war ja ein voller Erfolg.“ Schlingensief auf dem Opernball? Ich weiß von nichts. Ich denke, ich sitze im Zentrum des Geschehens, aber je länger alles läuft, desto leerer wird das Zentrum. Schlingensief ist jetzt nur noch Energie, und wenn er mit jemandem redet, schaut er gleichzeitig durch ihn durch. Anwesend ist er nur noch bei Sabine Christiansen und überall sonst, wo Kameras laufen. Schon richtig: ein Messias, der sich selbst ausstreicht. Fragt sich nur: Wie schreibt man ein Buch über ein Gespenst? Einmal sitzen alle beim Essen, und Schlingensiefs Freundin Nina Wetzel, die auch die Ausstattung macht, kommt rein und sagt, daß sie das und das nicht machen konnte, weil sie kein Geld mehr hat, und Schlingensief antwortet ihr, als würde er ein Interview geben: „Da mußt du halt improvisieren! Improvisieren! Improvisieren!“

Nina Wetzel schüttelt den Kopf und rennt raus. Schlingensief sieht auch nicht glücklich aus. Als würde er gerne wieder normal reden, aber nicht wissen, wie das geht. Nur Carl Hegemann freut sich. Er hüpft durch die Gegend und sagt: „Genau das ist es. Absolutes Chaos. Das gehört ja alles dazu.“ Und weil Carl Hegemann recht hat, ist es unmöglich, ein Buch aus dem Inneren dieses Kosmos zu schreiben. Es sei denn, Schlingensief macht es selbst. Über die Angsthürde rüberspringen und: Machen! Machen! Machen! Aber was kommt nach der Euphorie?